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Rosas Geheimnis

Rosa war genervt. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben.
Der übliche Krach mit Frau Winkelmann, ihre Englischlehrerin, am Morgen war eskaliert.
Alles wie üblich: Die Vokabeln nicht gelernt, die Hausaufgaben waren unleserlich, weil sie die erst in der Pause auf der Toilette abgeschrieben hatte. Sie war es gewohnt, dafür als  faules Früchtchen bezeichnet zu werden. Doch die diesmal nachgeschobene Drohung, Rosa werde das Schuljahr wiederholen müssen – dafür werde sie schon sorgen – ging doch um Einiges zu weit.
Gestern im Club hatte ihr Freund sie als Mein Weib vorgestellt.
Das war NoGo! Rosa gehörte Niemandem! Heute Abend bekäme er dafür die rote Karte.
Der Streit mit ihrer Mutter zog sich jetzt schon Wochen hin. Sie sprachen kaum noch ein Wort miteinander seit dem sie vergessen hatte, sich zuhause zu melden und Bescheid zu sagen, das sie bei Jesse übernachten würde.
Ihr Vater ließ schon lange nichts mehr von sich hören. Nicht einmal an ihrem Geburtstag meldete er sich noch.
Es war mal wieder Zeit  filzen zu gehen. Eine Tafel Schokolade hier, ein silbernes Halskettchen dort. Eine Tube MakeUp, immer nur Kleinigkeiten.
Zum Filzen fuhr sie in die Nachbarstadt. Erst mit dem Zug, dann zwei Stationen mit der U-Bahn und sie war da. Keine halbe Stunde und sie war im Rummel der Großstadt untergetaucht.
„Ausgerechnet! Was hat die denn hier zu suchen?“, entfuhr es ihr, als die Bahn den Konsumpalast erreichte. Die Frau, die sich an der vorderen Tür zum Aussteigen bereit machte, das war doch Frau Winkelmann!
Fast hätte Rosa sie nicht erkannt. Ihre ansonsten durch ungewöhnliches Outfit auffallende Lehrerin war in unauffälligem Grau gekleidet, hatte die langen blonden Haare zu einem altmodischen Knoten zusammen gesteckt und wirkte mit ihrer beigefarbenen Kunstledertasche, deren zu groß geratene Henkel sie fest umklammert hielt, wie die Requisite aus einem alten Film.  
Rosa bückte sich, tat als suche sie etwas auf dem Boden und schaute erst wieder auf, als Frau Winkelmanns Fuß den Bahnsteig berührte. Dann eilte sie nach hinten und stieg ebenfalls aus.
 Ein Stein fiel ihr vom Herzen, als diese Kurs in Richtung Innenstadt einschlug und himmelwärts auf der Rolltreppe entschwand.
 Rosa nahm den Ausgang rechts. Er führte direkt in die Einkaufsmeile. Ihr erstes Ziel war der Schreibwarenladen. Sie brauchte dringend ein neues Notizbuch. Wie nebenbei verschwand ein roter Kugelschreiber in ihrer Jacke. An der Kasse wechselte sie noch ein paar Worte mit der Verkäuferin und machte sich auf zum Drogeriemarkt, der sich in der unteren Etage befand.
Der Mascarastift war eine Herausforderung. Überall Spiegel, die sie beobachteten, ein schwer zu entfernender Magnetstreifen und ein halbes Dutzend Kunden, die im Laden herumschwirrten. Sie suchte sich eine Ecke in der sie unbeobachtet war und ließ den Stift in der Handtasche verschwinden.
 Im Saturn bewunderte sie die neue iPhone-Generation, durchwühlte einen CD-Tisch, fand aber nichts Brauchbares und verließ den Elektroniktempel unverrichteter Dinge durch den Ausgang zum ersten Stock.
Hier war deutlich weniger Trubel; die Geschäfte eleganter, die Preise entsprechend angepasst.
Dazwischen mit bunten Bildern zugeklebte Schaufenster. Damit man die Leere dahinter nicht sah.Langsam schlenderte Rosa durch die Passage.
Eine Boutique, ziemlich in der Mitte der Einkaufsmeile, erregte ihre Aufmerksamkeit. Kauf dich glücklich stand auf dem Schild in der Auslage. Es war eingerahmt von schicken, leider deutlich zu teuren Blusen. Rosa verliebte sich in die Pechschwarze, die mit dem tiefen Ausschnitt. Ihre bunten Pailletten machten sie unwiderstehlich.
Sie war unschlüssig. Sollte sie es wirklich wagen? Nach kurzem Zögern ging sie hinein, steuerte den Ständer mit dem Objekt ihrer Wahl an, trennte das Sicherheitsetikett mit einer Nagelschere heraus, legte sich zur Tarnung drei weiter Blusen über den Arm und verschwand in der Anprobe.
Sie betrachtete sich im Spiegel. Die Bluse passte wie angegossen. Richtig sexy sah Rosa darin aus. Nachdem sie ihr Spiegelbild ausgiebig bewundert hatte, zog sie ihre Jacke über, öffnete den Vorhang – und erstarrte!
Sie blickte direkt in die Augen einer Frau. Nicht in die irgendeiner Frau. Sie blickte geradewegs in die Augen von Frau Winkelmann!
Am Liebsten hätte Rosa den Vorhang schnell wieder zugezogen. Aber dafür war es zu spät. Unfähig zu irgendeiner Reaktion starrte sie ihr Gegenüber nur an. Panik machte sich breit. Ihre Augen begannen zu flackern. Jetzt war sie geliefert.
Doch was war das? Statt triumphierendes Leuchten auszustrahlen, sah sie in den Augen gegenüber ebenfalls Angst. Frau Winkelmann schien genauso erschrocken zu sein, wie sie selbst. Erst als Rosa genauer hinsah begriff sie warum: Das triste Grau unter Frau Winkelmanns Jacke war einem tiefen Schwarz gewichen. Die glitzernden Pailletten, die sie gerade noch an sich selbst bewundert hatte, leuchteten jetzt auf der Bluse gegenüber.
Ein ahnendes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Ein fragender Blick folgte. Das zustimmende Nicken gegenüber brachte Gewissheit. Wortlos sahen sie sich an.
Nach einigen Sekunden ratlosen Schweigens verließen sie  nebeneinander her schlendernd die Anprobe und schritten wie Mutter und Tochter gemeinsam zur Ladentür. Die Kassiererin, damit beschäftigt, das Kleingeld einer alten Dame nachzuzählen, bemerkte sie nicht einmal. Die Sicherheitsschleuse blieb stumm.

„Bleibt das unser Geheimnis?“, fragte Frau Winkelmann als sie die Treppe zum Ausgang hinuntergingen. „Bleibt es!“ antwortete Rosa erleichtert.
Jörn Wiertz, Juni 2024

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