Im Dunkeln

Friedhelm konnte sich nicht losreißen. Die Höhle faszinierte ihn. Er musste sie noch ein paar Minuten genießen. Säulen in den unterschiedlichsten Formen füllten die Grotte. Sie war vollgestopft mit den unterschiedlichsten Gebilden. Meterdicke Säulen hier, die von der Decke bis hinunter zum Boden reichten, dort hauchdünne Vorhänge aus Stein, durch die Licht hindurch leuchtete.
Die Höhle bestand aus mehreren Etage, war über zwanzig Kilometer lang und bis heute nur zu einem kleinen Teil erforscht. Allein in dem Gewölbe in dem er sich befand, hätte ein ausgewachsenes Fußballstadion seine Platz gefunden.
Friedhelm blieb stehen und wartete, bis seine Gruppe auf der Treppe hinunter zum Ausgang verschwunden war. Gerade wollte er einen Blick auf den schneeweißen Stalagmiten werfen, der sich von der unteren Etage bis zu ihm hinauf reckte, da ging plötzlich das Licht aus.
Es war dunkel. Völlig dunkel. Keine Notbeleuchtung brannte, keine noch so ferne Ahnung von Licht drang bis zu ihm vor. Die Abwesenheit von Licht war vollkommen. Der Stalagmit existierte nicht mehr. Kein Umriss, keine noch so kleine Schattierung, zeugte mehr von seiner Existenz.
„Hätte ich doch bloß mein Smartphone mitgenommen“, schoss es ihm durch den Kopf. Doch das schlummerte, samt eingebauter Taschenlampe, im Handschuhfach seines Autos vor sich hin.  
Auch er selbst war verschwunden. Als er den Kopf senkte, um an sich herunter zu schauen, war da: Nichts! Instinktiv betastete er sein Gesicht. Augen, Nase, Mund: Alles noch da! Er spürte, wie sich sein Brustkorb hob. Das Pochen in seiner Brust war nicht zu überhören.
 Wie sollte er die Treppe finden und zum Ausgang gelangen? Dort wo er sich befand, war der Felsvorsprung zwar breit wie eine Autobahn. Aber schon ein paar Meter weiter, schrumpfte er zu einem schmalen Pfad zusammen.
Ein eisernes Geländer bewahrte die Besucher davor, in die Tiefe zu stürzen. „Das Geländer“, schoss es ihm durch den Kopf. Er breitete die Arme aus, fuchtelte mit ihnen im dunklen Raum herum, fand es aber nicht.
Die Fußspitzen erkundete den Boden. Er war nass und rutschig. Erst als er sich sicher war, dass er auch wirklich Halt bieten würde, setzte er den ganzen Fuß an die ausgewählte Stelle. Rechts. Links. Langsam bewegte er sich zur Seite, in die Richtung, wo er das Geländer vermutete.
Da! Seine Fingerspitzen streiften etwas! Fast außerhalb seiner Reichweite. Noch bevor er sie anhalten konnte, hatten sie sich zurückgezogen.
Ein neuer Anlauf. Seine Füße schraubten sich am Boden fest, die  Finger tasteten nach dem kalten Eisen. Endlich. Die Hand umschloss den Handlauf, rüttelte daran, um sich zu vergewissern, ob es auch den ersehnten Halt bieten würde.
Langsam tastete er sich vorwärts. Während die Linke sich an das Geländer klammerte, ertastete die Rechte den Raum vor seinem Körper, um nicht unvermittelt irgendwo anzustoßen. Der in den Stein gehauene Gang war nicht allzu hoch.
Dann endete das Geländer. Fast hätte er das Gleichgewicht verloren.
Er erinnerte sich: Ein paar Meter weiter erhob sich eine Säule. Das Geländer endete bereits ein ganzes Stück davor. Er hatte sich bereits vorhin darüber gewundert, wie groß der Spalt gewesen war.
Er durfte den Weg nicht verlieren. Die unzähligen Besucher, die sich  täglich durch die Höhle bewegten, hatten den Stein zu einer glatten Fläche abgeschliffen und so einen Pfad markiert. Dem musste er folgen.
Friedhelm ging langsam in die Hocke, stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab. Als er sein Gleichgewicht gefunden hatte, folgte die Andere. Dann streckten sich seine Beine nach hinten aus. Eine glitschig-nasse Masse begrüßte sie.
Langsam strichen die Handflächen über den Boden. Sanft als wollten sie ihn streicheln. Unter ihm war der Weg deutlich ausgeprägt; daneben war es wellig, wie ein unruhiger See.
Er krabbelte ein Stück zur Mitte. Hier war es wieder glatt. Ein Stück weiter tauchten die Wellen wieder auf. Es war nicht wirklich auszumachen, was da einen Weg markierte.
Es hatte keinen Zweck! Bestimmt war der Strom gar nicht ausgefallen. Jemand hatte das Licht ausgemacht. Weil es die letzte Führung des Tages gewesen war!
Mit aller Kraft schrie er ein Hilfe aus sich heraus. Vielleicht gab es ja Jemanden hier unten, der ihn hören würde! Tausendfach hallte das Echo zurück. Ansonsten kam keine Resonanz.
Plop! machte es, als sich ein Wassertropfen von der Decke löste und auf dem Boden aufschlug. Ein weiterer traf ihn im Nacken.
„Ploooop!“ Was war das? Dieses Plopp klang anders. Nicht so kurz uns scharf wie das Vorherige. Und es kam von Unten. Er musste sich unmittelbar an der Abbruchkante befinden.
Verzweifelt grub er die Hände in sein Gesicht und streckte sich lang auf den Boden. Seine Hose war inzwischen vollkommen durchnässt.
Ratlos lag er einige Minuten da, als irgendetwas an seinem Hosenbein zupfte. Dann wieder! An der gleichen Stelle! Eine Maus, eine Ratte? Was sonst?
Friedhelm erstarrte: Der Grottenolm. Hier unten lebten Grottenolme.
Schlangenartige Wesen mit durchsichtigem Körper, die keine Augen hatten. Sie lebten seit Jahrtausenden hier. Sie waren die Kinder eines riesigen Ungeheuers, dass in der Höhle sein Unwesen trieb. Ihre Beute erfühlten sie mit eigens dafür entwickelten Rezeptoren! Fraßen sie auch Menschen?

Plötzlich ging das Licht wieder an. Die Stimme seiner Frau drang an sein Ohr. „Friedhelm! Aufstehn! Wir wollen doch heute in die Höhle.“

Jörn Wiertz, September 2024